Erfahrungen aus einem Gesprächskreis für Angehörige von Alzheimer-Patienten

Als ich bei meiner Mutter eine Vergesslichkeit beobachtete, die meiner Meinung nach über das normale Maß der altersbedingten Vergesslichkeit hinausging, spürte ich bei meinen anderen Familienmitgliedern wenig Verständnis für meine Sorgen. Auch der Hausarzt meiner Mutter hatte bei den wenigen Begegnungen keine Veränderungen feststellen können. 
Lange Zeit registrierte ich immer häufiger nachlassende geistige Fähigkeiten. 
Auch als ich schließlich mit ihr zu einem Neurologen ging und der eine Demenz vom Typ Alzheimer diagnostizierte, erntete ich in meinem Umfeld nur ungläubige Blicke. Wenige nahe Verwandte und Freunde meiner Mutter, die sie häufiger und über längere Zeiträume erlebten, stellten ebenfalls den geistigen Verfall fest. Aber insgesamt schaute kaum jemand hinter ihre sorgfältig aufgebaute Fassade.

Ich glaube, dass sich bei allen Menschen Angst und Unsicherheit aufbaut, deren Angehörige allmählich alt gewohnte Fähigkeiten verlieren. Mit zunehmender Hilflosigkeit beobachten wir die Symptome der fortschreitenden Erkrankung. Nach dem Verlust des Kurzzeitgedächtnisses tauchen sie immer häufiger in die Vergangenheit ab. Aber auch dabei treten mehr und mehr Lücken auf. Fragen nach längst verstorbenen Familienangehörigen beunruhigen uns genauso wie scheinbar verwirrtes Reden und Handeln. Bisher unbekannte Verhaltensweisen belasten die gesamte Familie und die engere Umgebung, in der der Patient lebt.

Wie sollen wir auf Angstzustände, Auflehnung, Aggression, Unruhe, Eigensinn, Interessenverarmung oder räumliche wie zeitliche Desorientiertheit reagieren?

Ich suchte Rat bei unseren Hausärzten. Aber die Informationen gingen kaum über das Bild und den Ablauf der Krankheit aus medizinischer Sicht hinaus. Das war für mich keine Hilfe bei der Bewältigung der täglich schwieriger werdenden Situation im Umgang mit meiner Mutter.

Als für meine Augen der Begriff „Alzheimer“ ein Reizwort geworden war, das mir auch beim Diagonal-Lesen der Zeitungen entgegen sprang, fiel mir in der örtlichen Tagespresse eine kleine Notiz auf. Da wurde der nächste Termin für den Gesprächskreis für Angehörige von Alzheimer Patienten angekündigt. Ich war inzwischen so verzweifelt über meine Hilflosigkeit im Umgang mit meiner Mutter, dass ich sofort bei der angegebenen Telefonnummer anrief, um mich nach näheren Einzelheiten zu erkundigen.
Ich erfuhr, dass jeder willkommen sei, der einen erkrankten Angehörigen pflegt, betreut oder begleitet oder sich aus anderen Gründen für die Krankheit interessiert.

Meine erste Teilnahme in der Gruppe brachte für mich eine entscheidende Wende:
Ich traf auf Menschen, die sich schon vor mehr oder weniger langer Zeit ebenfalls entschlossen hatten, mit ihren Fragen und Problemen in die geschützte Öffentlichkeit einer Gruppe zu gehen. 
Ich erfuhr erstmalig, dass ich mit meinen Ängsten und Zweifeln nicht allein dastand.
Als die anderen von ihren aktuellen Erlebnissen erzählten, spürte ich, dass es ihnen so geht wie mir.

Die psychischen Veränderungen im Alter betreffen nicht nur den Patienten selbst, sondern dessen gesamtes Familienumfeld; das ist immer aus allen Gesprächen deutlich heraus zu hören. Und das Wohlbefinden der Pflegeperson hat einen direkten Einfluss auf das Wohlbefinden des Kranken.

An erster Stelle steht in einem Gesprächskreis der Erfahrungsaustausch. 
Der Gesprächskreis ist ein Baustein zu mehr Verbundenheit in einer Lebenssituation, die große Anforderungen stellt und wenig Freiraum lässt. Lichtblicke und Atempausen sind wertvoll.
Die Gespräche finden statt in einer wohlwollenden, wertungsfreien und vor allem verständnisvollen Umgebung. Das tut unendlich gut und stärkt die Teilnehmer für die Durststrecken im Alltag.

Man muss realistisch sehen, dass sich die Lebensplanung einer ganzen Familie ändert, wenn sie sich für die Pflege eines psychisch veränderten alten Menschen entscheidet.

Bei uns waren bauliche Maßnahmen nötig, bevor wir meine Mutter zu uns ins Haus holten. 
Es ist auch ein ungeheurer Zeitaufwand erforderlich, wenn die Hilfsbedürftigkeit bei allen Verrichtungen des täglichen Lebens zunimmt. Ich entschied mich, meinen Beruf nach den Erziehungszeiten unserer Kinder nicht wieder aufzunehmen. Vor allem aber sind viel Einfühlungsvermögen, Geduld, Zuspruch und Zuwendung notwendig, um dem Kranken größtmögliche Eigenständigkeit zu erhalten.
Merkfähigkeitsverlust, Interessenverarmung und nachlassende Motivation müssen von der betreuenden Umgebung ständig im voraus mit bedacht werden.
Gerade ältere Ehepartner von Erkrankten geraten schnell in eine Isolation, wenn sie von der Pflege überfordert werden und Freunde und Bekannte sich aus Unsicherheit zurückziehen.

Auch in Familien, in denen ein Mitglied - meist Frauen - die Hauptpflege übernimmt, entstehen dadurch schnell Probleme. Die Pflegende fühlt sich zunehmend überfordert, weil sie sich ja auch noch für die anderen, gesunden Familienmitglieder verantwortlich sieht. Und die reagieren oft sogar mit Eifersucht und zu wenig Anerkennung.
Der hohen körperlichen und seelischen Belastung wird oft nicht genug Verständnis entgegen gebracht.
Die Gleichgültigkeit und Unsicherheit der Gesellschaft, sogar der Nachbarschaft und der Bekannten tun ihr Übriges dazu, dass der oder die Pflegende sich bald vor einem Abgrund der Hilflosigkeit sieht. 
Denn neben all den organisatorischen Fragen, pflegerischen und betreuenden Aufgaben gibt es schließlich noch einen ganz wichtigen Bereich:
Die Gefühle dem Kranken gegenüber!

Es ist unendlich schwer, den Persönlichkeitsverlust des geliebten Menschen zu beobachten und ihn in den einzelnen Stadien der Krankheit zu begleiten und anzunehmen.
Wir leiden seelisch am meisten. Wir leiden mit am Leiden unseres Angehörigen.

Der Gesprächskreis ist eine segensreiche Einrichtung. 
Der Titel „Gott sei Dank, dass es die Gruppe gibt!“ wurde bei einer Stichwortsammlung von einem Gruppenmitglied so aufgeschrieben.

Wir alle, die wir uns in Soest in den Räumen der Caritas in der Osthofenstraße regelmäßig treffen, profitieren von unserem offenen Erfahrungsaustausch. Wir merken, dass andere von ähnlichen Schwierigkeiten betroffen sind und können ihre Gefühle nachvollziehen. Weil jeder täglich seine Erfahrungen macht, geben wir Tipps und Ratschläge weiter, wie sie kompetenter nicht sein können.

Bei den monatlichen Treffen werden wir von einem dreiköpfigen Leitungsteam begleitet, dessen Mitglieder in der Altenpflege, im Kreisgesundheitsamt und bei der Caritas arbeiten. Sie informieren uns regelmäßig, z.B. wie medizinische Hilfe aussehen kann, welche sozialen und ambulanten Dienste zur Verfügung stehen, wo Hilfe in rechtlichen und finanziellen Fragen zu suchen ist.

Ich habe in unserem Gesprächskreis gelernt, mich weniger allein und isoliert zu fühlen und kann diese Erfahrung an meine Familie weiter geben. Ich kann inzwischen besser mit meinen Gefühlen und denen meiner Familienmitglieder, aber auch mit den Gefühlen meiner Mutter umgehen.

Was erwarten pflegende Angehörige von der Gruppenarbeit?
Sie erwarten Geduld, Akzeptanz, Hilfe bei der Entscheidung einer Heimunterbringung. Sie möchten lernen, sich besser vor Erschöpfung zu schützen. Sie hoffen, dass sie die Krankheit und deren Folgen besser verstehen und dass sie unterscheiden lernen, was der Kranke „nicht kann“ und was er „nicht will“. In unserer Gruppe wird berichtet, „was unsere Oma wieder angestellt hat“. Das beruhigt, macht betroffen, und zuversichtlich, von anderen Tipps zu erhalten, aber auch verzweifelt bei dem Gedanken, was noch alles kommen kann.

Wir Angehörigen tauschen uns darüber aus, wie wir mit der Enttäuschung umgehen, wenn wir von dem Kranken nicht mehr erkannt oder angelächelt werden, oder mit dem Ärger, wenn wir beschimpft werden.

Manchmal reicht meine Geduld nicht aus, ich reagiere heftiger als ich möchte. Oder ich nehme mir nicht genug Zeit, um der oft auftretenden Unruhe entgegen zu wirken. Oder ich bin gereizt und kann mich nicht genug zurück nehmen. In der Gruppe kann ich mich öffnen und mich davon frei sprechen, etwas versäumt oder etwas falsch gemacht zu haben.
Unter meinen Schuldgefühlen leide ich nämlich manchmal genauso wie meine Mutter, bei der die Selbstkritik und der Leidensdruck immer mehr nachlassen.

Im Gesprächskreis sehe ich mich objektiver. Ich darf mich als Helfer auch hilflos erleben, solidarisch mit anderen. Ich wachse in den Gedanken hinein, ambulante Dienste und Betreuungsangebote in Anspruch zu nehmen, um nicht meine Familie zu überfordern oder mich als Versager zu fühlen.
Ich kann ohne Angst wenigstens die Möglichkeit einer Heimaufnahme ansprechen, auch wenn ich am liebsten dabei beteuere: „Meine Mutter kommt nicht ins Heim!“
Ich kann inzwischen ohne Selbstvorwürfe und ohne Angst vor meinem Egoismus meine Mutter für die Zeit meines Urlaubs in die Kurzzeitpflege bringen. Schließlich haben die Gruppenmitglieder von ihren guten Erfahrungen damit berichtet.
Die Trennungsängste bei jeglicher Heimaufnahme verstehen wir untereinander am besten. Die Angehörigengruppe ist dabei eine Art Ersatzfamilie, die Kraft gibt. Kraft, den Kranken im Heim zu besuchen, uns von Schuldgefühlen zu entlasten und Missverständnisse zu klären.

Wir lernen auch, mit so genannten negativen Gefühlen umzugehen und sie zuzulassen. Wir stärken uns gegenseitig dabei, mit Kritik von anderen, von Verwandten, Nachbarn und Freunden umzugehen, die sich noch nicht selber mit der Pflege befasst haben. Je besser wir uns bei den Gruppenabenden aufgebaut haben, desto besser klappt der nachfolgende Pflegealltag.
Ich habe auch gelernt, meine Gefühle, Wünsche und Hoffnungen zu erkennen und zuzulassen, sogar sie auszusprechen.

Wir pflegenden Angehörigen brauchen:
Anerkennung durch unser familiäres Umfeld, Freunde und Nachbarn
Lob für die Übernahme der schweren Aufgabe
Hoffnung, dass wir aufgefangen werden und die Zusicherung, dass unser Ärger, unser Frust und unsere Aggressionen natürliche Gefühle bei der Krankenbegleitung sind.

Zusammenfassend kann ich sagen:
Gesprächskreise und Angehörigengruppen von psychisch veränderten alten Menschen erfüllen eine wichtige vorbeugende Funktion; denn sie verhelfen dazu, einer Überforderung der pflegenden und sorgenden Angehörigen vorzubeugen und damit deren möglicher Erkrankung entgegen zu wirken. Die Betreuenden sprechen sich aus und teilen ihren Kummer mit. Die Angehörigen können die Krankheit ihres Familienmitglieds annehmen lernen. Diese Ziele werden in der Gruppe unterstützt.

Die Forderung der Deutschen Alzheimer Gesellschaft für die Verbesserung der Situation der pflegenden Angehörigen beinhaltet, dass die Beratung flächendeckend gewährleistet sein soll. Beratungsangebote wie Gesprächskreise sollten in weniger als 20 km Entfernung erreichbar sein.

Dann könnten noch mehr Menschen sagen: „Gott sei Dank, dass es die Gruppe gibt!“