Veranstaltung für Angehörige, 18.9.1999

Sehr geehrte Damen und Herren, liebe Angehörige,

heute möchte ich Ihnen etwas über meine Mutter erzählen und ein wenig aus dem Nähkästchen plaudern. Meine Mutter lebt seit 5 Jahren im Alten- und Pflegeheim, nachdem sie nicht mehr alleine in ihrer Wohnung in Bad Sassendorf bleiben konnte. Sie wohnte dort alleine in einem Haus. Das Einkaufen wurde schwieriger. Ein wenig vergeßlich wurde sie mit ihren 86 Jahren und ich hatte doch Angst, daß sie evtl. den Elektroherd anließ, oder wenn sie hinfiel, ihr niemand helfen konnte und dann auch keiner ihr Rufen hören konnte.

Ich lebe in Düsseldorf und es ist schon etwas schwierig, mal eben so auf die Schnelle mit dem Zug nach Bad Sassendorf oder Soest zu kommen.
Bis Anfang 1998 lief eigentlich alles normal. Sie ging jeden Tag morgens und nachmittags mit ihrem Wägelchen spazieren. Natürlich ging das alles nicht mehr so schnell, aber sie hatte ja Zeit.

Anfang 1998 erzählte sie mir, daß sie die Karnevalssitzungen nicht mehr im Fernsehen ansehen könne, weil sie es zu laut macht und die Mitbewohnerinnen sich beschweren. Sie bekam einen schnurlosen Kopfhörer und nachdem es eine Woche geklappt hatte, ging nichts mehr. Sie wußte noch nicht mal mehr, wie man den Fernseher laut oder leise stellt. Vorher haben wir ca. drei- bis viermal in der Woche miteinander telefoniert, jetzt mußte ich täglich am Telefon neu erklären, wie der Fernseher funktioniert. Die Mitarbeiter des Alten- und Pflegeheims wurden eingespannt. Das Thema Kopfhörer und Fernseher war im gesamten Haus bekannt.

Sie begann ihre Erzählungen zu wiederholen, aber wenn ich sie darauf aufmerksam machte, fing sie sich recht schnell wieder und konnte dies sehr gut kompensieren. Auf ihrem 90. Geburtstag hat sie sich gut gehalten (1998). Danach wurde sie noch vergeßlicher. Die Kompensation klappte nicht mehr so gut.

Und dann fingen ihre Tagträume an. Auf ihrer Couch saßen Hunde und Katzen. Meine Mutter hatte ihr Leben lang Angst vor Hunden. Wenn ich in Soest war, erzählte sie, ,,schau, jetzt bewegen sie sich wieder, aber Du siehst sie ja nicht". Ihr war schon klar, daß ich die Tiere nicht sehen konnte.
Eines Abends rief sie mich an und erzählte ganz aufgeregt, sie hätte Traubensaft in die Ritzen der Sessel und der Couch geschüttet, um die Tiere zu verjagen. Den Tieren hätte es so gut geschmeckt, daß jetzt nur noch 2 dasäßen und sie anguckten.

Können Sie sich vorstellen, wie mir zumute war? Ich saß in Düsseldorf und sie war völlig verwirrt...
Sie behauptete, in ihrem Badezimmer käme das Wasser aus der Wand und keiner konnte es ihr ausreden. Jeden Abend kamen jetzt Nonnen und holten sie aus ihrem Zimmer, um mit ihr Zug oder Auto zu fahren, keiner sprach mit ihr, es war dunkel und sie hatte Angst. Erst gegen Morgen kam sie wieder in ihre Wohnung zurück, viele Menschen saßen herum, niemand sprach mit ihr. Ihre Ängste wurden immer größer.

Zwischenzeitlich war sie immer wieder ganz klar. Dann glaubte sie mir auch, daß sie dies alles nur träumte. Aber am nächsten Tag, am Telefon, fing alles wieder von vorne an. Meine Telefonnummer wußte sie aber immer auswendig! Körperlich wurde sie immer schwächer. Sie mußte ins Bett gebracht werden und konnte nicht mehr alleine laufen.

Der Neurologe stellte eine hochgradige Demenz fest und versuchte eine Tabletteneinstellung.
ch möchte keinem Neurologen zu nahe treten, aber heute würde ich es ablehnen, daß sie Psychopharmaka bekäme. Ich hatte eher den Eindruck, die Tabletten halfen gar nichts, die Träume und Halluzinationen und ganz besonders die Ängste wurden nicht besser. Nur etwas ruhiger wurde sie durch die Tabletten gestellt.

Im März stürzte meine Mutter im Badezimmer und mußte ins Krankenhaus gebracht werden. Hier wurden sofort die Psychopharmaka abgesetzt und nach einer Woche konnte ich mich ganz normal mit ihr unterhalten. Sie war zwar schwach, konnte auch nicht alleine essen, sondern mußte gefüttert werden, aber sie wollte unbedingt aufstehen, im Rollstuhl sitzen und die blühenden Bäume im Krankenhausgarten betrachten.

Beim nächsten Besuch konnte sie fast nicht mehr sprechen, nicht mehr schlucken. Sie wurde alle 2 Stunden durch das Krankenhauspersonal ,,gewendet". Die Ärzte nahmen an, sie hätte einen Schlaganfall erlitten. Seit Anfang Mai liegt sie völlig unbeweglich in der Pflegestation. Sie wird in diesem Haus sehr liebevoll versorgt und gut gepflegt.

Ich komme so oft, wie ich es schaffe. Dann sitze ich an ihrem Bett, halte die Hand , erzähle alles mögliche und weiß doch nicht, wie ich helfen kann.
Sie erkennt mich immer und wenn es ihr gut geht, spricht sie auch schon mal einen Satz.
Aber was mag sie den ganzen Tag denken, wenn sie bewegungslos im Bett liegt? Lebt sie in der Vergangenheit? Glaubt sie, daß sie wieder aufstehen kann? Hat sie noch immer Ängste?

Oft kann ich sie nicht verstehen, wenn sie versucht, etwas zu sagen. Heute hat sie bemerkt, daß ich eine neue Brille trage. Keinem meiner Bekannten in Düsseldorf ist dies aufgefallen. Wenn ich abends im Zug nach Hause sitze, sehe ich immer nur ihr Gesicht vor mir, das so klein geworden ist.

Ich danke Ihnen fürs Zuhören. (G. M.)