Schönen guten Tag, meine Damen und Herren.

Mein Name ist M. S., ich lebe in Soest. Ich möchte Ihnen einige Gedanken und Erfahrungen mitteilen dazu, wie meine Mutter vor nunmehr 11 Jahren ihr Zuhause verließ.

Als meine Mutter ins Heim zog, tat sie das nicht freiwillig in dem Sinn, dass sie sich Gedanken darüber gemacht oder es gar beabsichtigt hätte. Sie verließ auch nicht den Verband ihrer Familie, denn sie hatte schon jahrelang allein gelebt. Sie machte sich auf zur nächsten Etappe ihres Lebens, mit allen Ängsten vor dem Neuen und Ungewohnten, vor Veränderungen, die die Sicherheit beeinträchtigen könnten.

Ich hielt damals während der Jahre regelmäßigen Kontakt zu ihr. Ich half beim Aufstehen, bereitete ihr Frühstück, kümmerte mich um den Einkauf und die gröbste Reinigung ihrer Wohnung, assistierte ihr bei den Verrichtungen im Bad. Darüber hinaus konnte sie die Dinge im Verlauf eines Tages noch allein erledigen.

In der neuen Situation, in der sich ihr Zustand weiter verschlechterte, hätte sie in den Verband der Familie zurückkehren müssen. Doch das ging damals nicht. Es blieb nur der Einzug in das Heim. Trotzdem hatte ich das Gefühl, meine Mutter abzuschieben.

,,Abschieben", das Wort klingt hart. Es hat mit Gewalt und Widerstand zu tun. Zu schieben, geschoben zu werden und sich dagegen zu wehren bedeutet für beide Seiten einen sehr unerfreulichen Energieaufwand. Ich spürte ihren Widerstand und konnte nur mit negativen Emotionen reagieren, denn ich hatte eine schlechtes Gewissen, weil ich am längeren Hebel saß.

Aber gab das mir, der Schiebenden, und ihr, der Geschobenen, nicht auch die Chance sich weiter miteinander zu beschäftigen und sich auch in der Mitte zu treffen? Meine Mutter, krank und alt, ich, gesund und kraftvoll. Das sind die Gegensätze, die sich gut vereinigen und ausgleichen könnten, wie schwarz und weiß, hell und dunkel, stark und schwach.

Ich sehe das heute so. Denn erst durch den Umgang miteinander gelang uns Zugang zueinander. Hätte ich meine Gefühle Ihnen vor zehn Jahren mitteilen dürfen, dann hätte ich gebeugt hier gestanden: schuldvoll, unsicher und hilflos. Darüber, wie meine Mutter mit der neuen Situation fertig werden würde, wie sie auf die neue Umgebung und den vielen fremden Menschen reagieren mochte, hatte ich nur schlimme Erwartungen.

„Jedes Ende ist ein Neubeginn", das Wort von Hesse half mir jedoch sehr. Ich wollte meiner Mutter den Neuanfang so leicht wie möglich machen und suchte ein Heim in meiner unmittelbaren Nähe. Ein paar Minuten Entfernung nur sollten mir häufige Besuche bei ihr ermöglichen, wie es mein Beruf zuließ. Wir waren schon dabei, uns aufeinander zuzubewegen, denn sie machte mir keine Vorwürfe, dass ich ihren Schicksalsweg bestimmte. Darüber, dass sie ihren wohl letzten Lebensabschnitt im Heim verbringen sollte, sprach sie nicht. Noch hatte ich ein beklemmendes Gefühl, denn den Satz ,,Einen alten Baum verpflanzt man nicht", hatte ich natürlich von ihr. Und ich verpflanzte sie.

Ich versuchte ihr einen großzügigen, hellen Platz zu geben, denn ihre alten Wurzeln reichten viel weiter als man es jemals hätte berücksichtigen können. Sie musste sich von so vielen Dingen trennen. Ich versprach ihr gern, sie nicht allein zu lassen, denn das war ihre größte Angst und meine.

Alleinsein unter Fremden, tiefe Einsamkeit, eine Wunde, die nur mit der Zeit und Hilfe Vieler heilen konnte. Ich linderte ihre und meine Sorgen durch viele Besuche und Gespräche, ich reichte ihr das Essen und stellte Dinge mit ihr an, die nur ihr Freude machen. Dies habe ich bis auf den heutigen Tag so beibehalten. Ich bin auch in Gedanken bei ihr, wenn ich ihr bei einem Gewitter, vor dem sie so große Furcht hat, einmal nicht die Hand halten kann. Bei meinem nächsten Besuch spreche ich mit ihr darüber. Das hilft sehr, denn es schafft ein hohes Maß an Intimität und Vertrautheit und damit Zuversicht, wofür ich selbst auch sehr dankbar bin. Als ich für das Wohlergehen meiner Mutter, ihrer schwierigen Gesundheit und deren medizinischer Versorgung, noch allein verantwortlich war, hatte ich diese Zuversicht nicht.

Der Umzug meiner Mutter in das Heim hat zum Schluß alles viel leichter gemacht, so dass wir wieder aufeinander zukommen konnten. Meine Mutter wirkt, seitdem ihre Kräfte immer mehr schwinden, doch sehr dankbar und zufrieden. Worüber sie den lieben, langen Tag nachdenkt, verrät sie mir heute auch noch nicht. Es fällt ihr auch inzwischen das Sprechen sehr schwer und selbst die Kraft zum Lachen und Weinen fehlt ihr.

Vielleicht sind die älteren Menschen dankbarer als ich glaube, wenn wir uns ihnen nur zuwenden, sie ernst nehmen mit ihren wenigen Wünschen. So geringe Bedürfnisse sind übrig geblieben, meine Mutter ist überglücklich, wenn ich ihr nur mit dem Kamm durch die Haare gehe.

Menschen, ob jung oder alt, brauchen das Gefühl gemocht zu werden, und ihr Leben hat einen Sinn. Oder, wie Ricarda Huch sagt, ,,Liebe ist das einzige, das wächst, wenn wir es verschwenden“.

Vielen Dank.